Diskriminierender Tarifvertrag
Verstößt eine tarifliche Norm gegen das Diskriminierungsverbot befristet beschäftigter Arbeitnehmer nach § 4 Abs. 2 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) und ist deshalb gemäß § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) (teil)nichtig, hat der benachteiligte Arbeitnehmer Anspruch darauf, so behandelt zu werden wie die vergleichbaren Dauerbeschäftigten, ohne dass den Tarifvertragsparteien zuvor die Möglichkeit zur Korrektur ihrer diskriminierenden Regelung einzuräumen ist.
Ein Mitarbeiter ist seit Juni 2019 als Zusteller bei einer Arbeitgeberin beschäftigt, die bundesweit logistische Dienstleistungen anbietet. Der Arbeitsvertrag war zunächst befristet und ist seit Juni 2020 unbefristet. Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit nach den bei der Arbeitgeberin geltenden Haustarifverträgen. Die Höhe der Vergütung richtet sich u.a. nach der jeweiligen Entgeltgruppe sowie einer von der Beschäftigungszeit bei der Arbeitgeberin abhängigen Gruppenstufe.
Vor dem Hintergrund einer umfassenden Reorganisation bei der Arbeitgeberin ab Juli 2019 vereinbarten die Tarifvertragsparteien u.a. eine Verlängerung der Gruppenstufenlaufzeiten für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse nach dem 30.06.2019 neu begründet worden sind. Der Mitarbeiter und die Arbeitgeberin streiten darüber, ob von dieser Regelung auch Wiedereinstellungen Beschäftigter erfasst werden, die vor diesem Stichtag befristet tätig waren, und ob in diesem Fall die dann auch für jene Arbeitnehmergruppe erfolgte Verlängerung der Stufenlaufzeiten im Einklang mit § 4 Abs. 2 TzBfG steht. Der entsprechende Klage des Mitarbeiters war von den Vorinstanzen stattgegeben worden.
Die dagegen gerichtete Revision der Arbeitgeberin beim Bundesarbeitsgericht hatte keinen Erfolg.
Die streitige Tarifnorm erfasst auch Arbeitnehmer wie den betreffenden Mitarbeiter, deren befristete Arbeitsverhältnisse nach dem 30.06.2019 erneut begründet wurden. Die Regelung verstößt gegen den Unionsrecht umsetzenden § 4 Abs. 2 TzBfG. Die von der Arbeitgeberin dargelegten Gründe für die Ungleichbehandlung, die aufgrund des Unionsrechtsbezugs von § 4 Abs. 2 TzBfG von den Gerichten für Arbeitssachen einer vollständigen und nicht lediglich – wie bei bestimmten Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) – einer Willkürkontrolle zu unterziehen sind, rechtfertigen diese Ungleichbehandlung nicht und diskriminiert deshalb den Personenkreis der zuvor befristet Beschäftigten. Die Tarifbestimmung ist insoweit teilnichtig. Der Mitarbeiter hat deshalb nach § 612 Abs. 2 BGB i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 3 iVm. Satz 1 TzBfG ebenso wie die vergleichbaren am Stichtag unbefristet beschäftigten Arbeitnehmer Anspruch auf Beibehaltung der kürzeren Gruppenstufenlaufzeiten. Das konnte das Bundesarbeitsgericht entscheiden, ohne den Tarifvertragsparteien zuvor Gelegenheit zur Beseitigung der Diskriminierung zu gewähren. Den Tarifvertragsparteien ist im Anwendungsbereich unionsrechtlich überformter Diskriminierungsverbote – anders als bei Verletzungen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG (dazu Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11.12.2024, Az. 1 BvR 1109/21 u.a.) – keine primäre Korrekturmöglichkeit einzuräumen. Art. 3 Abs. 1 GG entfaltet im Unterschied zu unionsrechtlich überformten Diskriminierungsverboten keine Abschreckungsfunktion.
Das Bundesarbeitsgeicht hat am gleichen Tag noch ein weiteres Parallelverfahren (Az. 6 AZR 132/25) entschieden. Ein weiteres Verfahren mit dem Az. 6 AZR 161/24 war übereinstimmend für erledigt erklärt worden.
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 13.11.2025
Aktenzeichen: 6 AZR 131/25