Wartezeitkündigung eines schwerbehinderten Menschen – Präventionsverfahren erforderlich?
Der Mitarbeiter war der Ansicht, die Kündigung sei nach § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 Allgemeines Gleichbehandlungsgestez (AGG) i.V.m. § 134 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) nichtig und im Übrigen gem. § 242 BGB unwirksam. Die Arbeitgeberin habe – unstreitig – kein Präventionsverfahren gemäß § 167 Abs. 1 SGB IX als Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durchgeführt und gegen die Pflicht zum Angebot eines behinderungsgerechten Arbeitsplatzes verstoßen. Die Arbeitgeberin wandte ein, der Mitarbeiter habe sich als fachlich ungeeignet erwiesen. Ein anderer freier Arbeitsplatz sei nicht vorhanden gewesen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage des Mitarbeiters abgewiesen. Auch die Berufung und die Revision des Mitarbeiters blieben erfolglos.
Ein Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, stellt zwar für sich genommen keine Benachteiligung wegen der Behinderung iSv. § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG dar. Er soll jedoch regelmäßig die Vermutung einer – unmittelbaren – Benachteiligung wegen der (Schwer-)Behinderung begründen, weil solche Pflichtverletzungen grundsätzlich geeignet seien, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht interessiert zu sein (ständige Rechtsprechung, vgl. Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14.06.2023, Az. 8 AZR 136/22). Nach Auffassung des Gerichts ist es allerdings zweifelhaft, ob diese Vermutung unbesehen eingreifen kann, wenn der Arbeitgeber den betreffenden Arbeitnehmer in Kenntnis seiner (Schwer-)Behinderung eingestellt hat und sodann im Lauf des Arbeitsverhältnisses gegen behinderungsspezifische Regelungen verstößt. Das Argument eines „offensichtlichen Desinteresses“ an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen kommt in diesen Fällen zumindest nicht ohne Weiteres zum Tragen.
In der Rechtsprechung ist bislang nicht geklärt, ob das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX eine positive Maßnahme i.S.v. § 5 AGG sowie Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG ist und vor allem, ob das Unterlassen einer solchen Maßnahme an sich eine Benachteiligung wegen der (Schwer-)Behinderung i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG sein kann (offengelassen im Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21.04.2016, Az. 8 AZR 402/14). Beide Fragen konnten hier aber dahinstehen. Die Arbeitgeberin hatte nicht gegen § 167 Abs. 1 SGB IX verstoßen. Die Vorschrift kommt – wie schon zu der der Sache nach identischen Vorgängerregelung des § 84 Abs. 1 SGB IX in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung entschieden – während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG nicht zur Anwendung. Vielmehr ergibt die Auslegung der Bestimmung, dass sie ausschließlich für Kündigungen im zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes gilt (vgl. auch Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 22.10.2015, Az. 2 AZR 720/14). Damit hatte die Arbeitgeberin weder eine einschlägige Verfahrens- oder Fördervorschrift zugunsten von Arbeitnehmern mit (Schwer-)Behinderung verletzt noch eine zu ergreifende positive Maßnahme zugunsten dieser Menschen unterlassen. Dies macht bereits der Wortlaut von § 167 Abs. 1 SGB IX deutlich. Das eindeutige Ergebnis der Wortlautauslegung wird durch gesetzessystematische Erwägungen bestätigt.
Es war – über das zu Recht unterbliebene Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX hinaus – nichts dafür festgestellt, dass der Mitarbeiter durch die Kündigung unmittelbar (§ 3 Abs. 1 AGG) oder doch mittelbar (§ 3 Abs. 2 AGG) wegen seiner (Schwer-) Behinderung diskriminiert worden wäre. Vielmehr erfolgte die Kündigung ausschließlich wegen seiner mangelnden fachlichen Eignung. Entgegen einer im Schrifttum vertretenen Auffassung ist es nicht widersprüchlich, einem schwerbehinderten Arbeitnehmer außerhalb des – zeitlichen und/oder betrieblichen – Geltungsbereichs des Kündigungsschutzgesetzes ggf. die erforderlichen Maßnahmen nach § 164 SGB IX zur Vermeidung einer Kündigung zuzugestehen, ihm aber das der Suche nach solchen Maßnahmen dienende Präventionsverfahren vorzuenthalten.