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Dr. Christopher von HarbouRechtsnews Berücksichtigung der Rentennähe bei der sozialen Auswahl

Berücksichtigung der Rentennähe bei der sozialen Auswahl

Bei einer betriebsbedingten Kündigung hat die Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers anhand der in § 1 Abs. 3 Satz 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) bzw. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Insolvenzordnung (InsO) genannten Kriterien zu erfolgen. Bei der Gewichtung des Lebensalters kann hierbei zu Lasten des Arbeitnehmers berücksichtigt werden, dass er bereits eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezieht. Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitnehmer rentennah ist, weil er eine solche abschlagsfreie Rente oder die Regelaltersrente spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses beziehen kann. Lediglich eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen darf insoweit nicht berücksichtigt werden.

Die 1957 geborene Mitarbeiterin war seit 1972 bei einem insolvent gewordenen Unternehmen beschäftigt. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens schloss der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat einen ersten Interessenausgleich mit Namensliste, der die Kündigung von 61 der 396 beschäftigten Arbeitnehmer vorsah. Als zu kündigende Arbeitnehmerin war die Mitarbeiterin in der Namensliste genannt. Mit Schreiben vom 27.03.2020 kündigte der Insolvenzverwalter das Arbeitsverhältnis zum 30.06.2020.

Die Mitarbeiterin hielt die Kündigung für unwirksam und klagte. Der Insolvenzverwalter hielt die Kündigung für wirksam. Die Mitarbeiterin sei in ihrer Vergleichsgruppe – auch in Bezug auf den von ihr benannten, 1986 geborenen und seit 2012 beschäftigten Kollegen – sozial am wenigsten schutzwürdig gewesen. Sie habe als einzige die Möglichkeit gehabt, ab 01.12.2020 und damit zeitnah im Anschluss an das beendete Arbeitsverhältnis eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte (§§ 38, 236b Sozialgesetzbuch – SGB – VI) zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück.

Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat vereinbarte der Insolvenzverwalter mit diesem Ende Juni 2020 wegen der nunmehr beabsichtigten Betriebsstilllegung nach Ausproduktion zum 31.05.2021 einen zweiten Interessenausgleich mit Namensliste. Der Insolvenzverwalter kündigte der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin vorsorglich erneut am 29.06.2020 zum 30.09.2020. Die Mitarbeiterin erhob auch gegen diese Kündigung Kündigungsschutzklage.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht hatten beide der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Revision des Insolvenzverwalters hatte vor dem Bundesarbeitsgericht teilweise Erfolg.

Die erste Kündigung vom 27.03.2020 war im Ergebnis unwirksam. Allerdings durften die Betriebsparteien die Rentennähe der Mitarbeiterin bei der Sozialauswahl bezogen auf das Kriterium „Lebensalter“ berücksichtigen. Sinn und Zweck der sozialen Auswahl ist es, unter Berücksichtigung der im Gesetz genannten Auswahlkriterien gegenüber demjenigen Arbeitnehmer eine Kündigung zu erklären, der sozial am wenigsten schutzbedürftig ist. Das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ist dabei ambivalent. Zwar nimmt die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil lebensältere Arbeitnehmer nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Sie fällt aber wieder ab, wenn der Arbeitnehmer entweder spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§§ 37, 236a SGB VI) – verfügen kann oder über ein solches bereits verfügt, weil er eine abschlagsfreie Rente wegen Alters bezieht.

Diese Umstände können der Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ zum Nachteil des Arbeitnehmers berücksichtigen. Insoweit billigen ihnen § 1 Abs. 3 KSchG, § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO einen Wertungsspielraum zu. Die streitbefangene Kündigung vom 27.03.2020 war im Ergebnis dennoch unwirksam, weil die Auswahl der Mitarbeiterin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgte und deswegen grob fehlerhaft war.

Im Hinblick auf die vorsorgliche Kündigung vom 29.06.2020 hatte die Revision des Insolvenzverwalters demgegenüber Erfolg. Diese Kündigung war wirksam und hat tedas Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30.09.2020 aufgelöst.

Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 08.12.2022
Aktenzeichen: 6 AZR 31/22